Denk´ ich an Aitmatow –

denk´ ich an Edige und an meine karakalpakischen Freunde im Nord-Westen Usbekistans.

„Verlassen und verloren fühlte sich Schneesturm-Edige im Schneegestöber. Kein Mensch weit und breit, nur die weiße Undurchdringlichkeit. Karanar schüttelte beim Laufen die an seinem Kopf festklebenden Schneeklumpen ab, zerriß die Stille mit Gebrüll und Schreien. Elend fühlte sich sein Herr auf diesem Weg. Er konnte sich nicht in die Gewalt bekommen, es gelang ihm nicht, sich zu beruhigen, den Gedanken eine unstrittige, sichere Richtung zu geben. Er konnte sich Saripa nicht vollends offenbaren, konnte sich aber auch nicht lossagen von Ukubala. Da begann er sich mit den schlimmsten Worten zu schmähen, zu beschimpfen. Ein Vieh bist du, ein Kamel wie dein Karanar! Miststück! Hund! Holzkopf! und anderes in der Art. Mit saftigen Flüchen geißelte und beleidigte er sich, machte sich Angst, um sich nur zu ernüchtern, zu sich zu kommen, sich zu besinnen, haltzumachen.

Aber nichts half. Ein Erdrutsch schien ihn erfasst zu haben, unaufhaltsam. Die einzige Freude, die seiner harrte, waren die Kinder. Sie nahmen ihn vorbehaltlos so, wie er war, stellten ihn vor keine besonderen Probleme. Hilfe zu erweisen, etwas heranzuschaffen, im Haus etwas auszubessern das alles tat er für sie, und mit größter Freude, so wie er jetzt Winterkartoffeln für sie mitbrachte in zwei riesigen Säcken, die er Karanar aufgeladen hatte. Für Brennstoffvorrat hatte er auch schon gesorgt.“ (Tschingis Aitmatow, Der Tag zieht den Jahrhundertweg)

Feldrand.

Du. Feldrand. – abgehobene Ewigkeit.
Hast dich treten, hast dich gehen lassen.
Unterm Druck von Menschen und Maschinen Massen.
Du Feldrand- bist mal kahl, mal voller Kraft.
Gibst Brot und Bienen Blütensaft.
Du Feldrand lässt mich unter Käfern liegen. Gibst den Schatten – dein Aas nährt Fliegen.
Du Feldrand bist mein Mohn am Zaun- zehrst im Sommer – im Winter kaum.
Feldrand. Feldrand. – Ich bin dein Tier- stehst vor über unter neben mir.

Selbst mit Mutter und Krone*

Mutter, du hast mich zu Fleisch gemacht.
Hast mir die Krone aufgesetzt.
Mich gebettet, genährt und durchs Leben geführt.
Hast mir die Sachen genäht und das Brot belegt.
Von Anfang an hast du mich getragen.
An deiner Brust auf deinen Armen.
Hast mir immer und immer die Hände gereicht.
Für mich mich besungen.
Geschichten erzählt.

Ich war noch kein König.
Lediglich ein Prinz.
Du hast die Krone für mich passend gemacht.
Der Prinz zog aus.
Und du hast geweint.
Kein Blick kam zurück.
Die Welt neben dir war anders schön.
Den Weg zum König wollte ich alleine gehn.
Er war steinig.

Oft einsam und voll Erinnerung.
An das Sanfte in dir.
Mit dir und ohne dich.
Ich bekam eine Rüstung.
Hatte selten ein Pferd.
Bei dir lernte ich gehen.
Und das war gut.
Es half mir verstehen.
Entdecken und sehn.

Jetzt bin ich der König und du bist weg.
Ich seh dich auf Bildern.
Auf Papier und im Kopf.
Es verdrängt das Verdrängen.
Das Vergessen bleibt aus.
Aber Verstehen gelingt besser.
Und ich seh nun mich in dir.
Wie ich sitze und warte.
Dass du wiederkommst.

Um dir zu danken.
Und zu sagen.
Wie stolz ich bin.
Nur allein.
Dein König zu sein.

*nach einem Bild von Doris Ziegler

OBSCURA – Frohe Zukunft

Wir haben die Tage gezählt.
Und die Fugen im Boden.
Wir haben die Anderen gequält.
Und marschierten nach Noten.
Wir haben das Licht gesehen.
Und wollten den Sinn verstehen.
Wir sind nicht rausgekommen.

Man hat unsere Frohe Zukunft genommen

Zum Projekt: „Die Jugendhaftanstalt, offiziell als „Jugendhaus ‚Frohe Zukunft‘” bezeichnet, existierte von 1971 bis 1989. Mit bis zu 1500 männlichen, meist jugendlichen Häftlingen aus der gesamten DDR war das im Norden von Halle gelegene „Jugendhaus“ eine zentrale Institution der Sozialdisziplinierung der DDR. Es war die modernste und größte Jugendhaftanstalt der DDR, und eines der wenigen Gefängnisneubauten.

In der öffentlichen Erinnerung ist das Jugendhaus sowohl in Sachsen-Anhalt als auch darüber hinaus bisher nicht sichtbar. Um das zu ändern, soll die Geschichte des „Jugendhauses“ Halle nun erstmals systematisch und unter Nutzung bisher nicht verwendeter Quellen aufgearbeitet werden.“ (Quelle: https://www.zeit-geschichten.de/…/soz…/jugendhaus-halle/ )

April

Liebe A., nun ist schon wieder April- es wird wohl ewig „unser“ Monat bleiben. In ihm haben wir ein Leben gemacht. In ihm hast du ein Leben gelassen. Und wieder blühen die Obstbäume. Es brennen neue Feuer. Die Natur wird zur Passion.

Ich lese die Tagebücher der Maxie W.* und erinnere vieles. Du hattest sie damals gelesen und ich habe es nicht verstanden- so, wie ich überhaupt nur wenig verstanden habe.

* „Alles, was ich nicht gelebt habe, die tiefe Trauer über ungelebtes Leben, wie viel Schönheit uns verloren geht, für immer. Und wir lebten manchmal so, als ob wir unermesslich viel Zeit hätten.“

O. sagt, du würdest (als unsichtbarer Engel) immer noch hier sein und wachen. Ich möchte das gerne glauben und werde immer wieder versuchen, dich irgendwie sichtbar zu machen.

Ich bewahre alle Polaroids im Kühlschrank auf. Gefroren haben wir nie- damals hinterm Mond

reminds of Orol dengizi

causes hallesche störung – Magazin für andere Ideen Winter 2021/22

»Als ich an seinem Ufer stand und durch sein, von vielen kleinen Wellen gekräuseltes Wasser den mit Gelbgrün bedeckten, schlammigen Grund sah, hatte ich das Bedürfnis, wie nach einer langen Beziehung, in welcher Leidenschaft und Liebe verlorengegangen sind, die Frage zu stellen- wie soll es nun mit uns weitergehen! Ich fühlte mich unendlich traurig und am, nur zu erahnenden, Horizont wirbelte das Salz und der Sand als wilde Wolken zum graublauen Himmel empor. Zu meinen Füßen lagen Tierkadaver. Außer dem Fauchen des Windes war nichts zu hören. Meine Tränen zogen lange Spuren in meinem staubigen Gesicht. Ich glaube, in diesem Moment hatte ich den größten Teil meiner Hoffnung verloren.«
[selbst am Aralsee im April 2021]

Danke an Jörg Wunderlich von hallesche störung für das Veröffentlichen.
Im April 2021 war ich für das Institut für Demokratie, Medien und Kulturaustausch IDEM als Medien-Referent in einem Umwelt-Projekt in Usbekistan am Aralsee unterwegs.

Einschluss

»Über zwölf Stunden Vernehmung waren vorbei. Draussen war es bereits dunkel, als er in der Mitte der Rückbank des Bereitschaftswagens, zwischen zwei Beamten vom Präsidium in der Neustadt durch die menschenleere Nacht in die Altstadt gebracht wurde. Dort öffnete sich automatisch ein riesiges Tor zu einem finsteren Hof auf den in tiefer Stille schwarze vergitterte Fenster starrten. Er hatte keine Ahnung, wo er war. Ab jetzt folgten all seine Handlungen den Anweisungen uniformierter Vollzugsbeamter.«

be work in progress or be kafka

»Und es war ihnen wie eine Bestätigung ihrer neuen Träume und guten Absichten, als am Ziele ihrer Fahrt die Tochter als erste sich erhob und ihren jungen Körper dehnte. »Es ist ein eigentümlicher Apparat«, sagte der Offizier zu dem Forschungsreisenden und überblickte mit einem gewissermaßen bewundernden Blick den ihm doch wohlbekannten Apparat. Sie hätten noch ins Boot springen können, aber der Reisende hob ein schweres, geknotetes Tau vom Boden, drohte ihnen damit und hielt sie dadurch von dem Sprunge ab. In den letzten Jahrzehnten ist das Interesse an Hungerkünstlern sehr zurückgegangen. Aber sie überwanden sich, umdrängten den Käfig und wollten sich gar nicht fortrühren.«